Als Paul das Laufen verlernte

Dieser Beitrag erschien zuerst im November 2019 auf schwesterfraudoktor.de, die auch so freundlich war, den Artikel zu lektorieren.

CN: Beschreibung drastischer medizinischer Maßnahmen

Als Paul zu uns kam, arbeitete ich als Gesundheits- und Krankenpfleger auf einer HNO-Station. Der gute Mann hatte einen längeren Intensivaufenthalt hinter sich und kam direkt aus der Reha. Während der langen Beatmung auf der Intensivstation wurde ein Luftröhrenschnitt gemacht und ein Tracheostoma angelegt, damit die Beatmung nicht dauerhaft über einen Schlauch im Hals erfolgen musste. Unsere Aufgabe sollte es nun sein, aus dem provisorischem ein epithelisiertes – ein dauerhaftes – Stoma zu machen. Paul litt an Trisomie-21 und war für die typische Lebenserwartung bei diesem Syndrom schon ein älterer Herr von Mitte 50. 

Es schon nach Mittag, als er eintraf und ich war im Frühdienst. Also nahm ich ihn stationär auf und machte meine Anamnese via Inaugenscheinnahme, denn er hatte kein Sprechventil in seiner Trachealkanüle, was bestimmt das ein oder andere vereinfacht hätte. Die Aufklärungen für die Narkose und die OP am nächsten Tag waren vom Betreuer bereits unterschrieben. Ein Pflegeüberleitungsbogen war natürlich nicht dabei, dafür hatte Paul einen Blasenkatheter und eine nasale Magensonde.

Von Einhörnern und Pflegeüberleitungsbögen

An dieser Stelle möchte ich kurz über Einhörner sprechen. Weil jeder Einhörner mag. Einhörner sind anmutige, wunderschöne Wesen. Einfach gestaltet, aber einfach toll. Wissen Sie, werte*r Leser*in worauf diese Beschreibung noch zutrifft? Auf Pflegeüberleitungsbögen. Wir wissen alle, dass sie super und praktisch und trallala sind, aber in freier Wildbahn sind sie nur selten anzutreffen. Es gibt diverse Vordrucke von diversen Verlagen und diverse Ausdrucke von diversen digitalen Pflegesystemen, die evtl. diverse grobe Überblicke über diverse Dinge verschaffen kann, die man nach wenigen Stunden Arbeit mit dem Betroffenen auch selbst rausgefunden hat, aber nur (!) wenn man sie ausdruckt, ausfüllt und bei Einweisungen und Verlegungen mitgibt. Ja….. Einhörner…..

Wo keine Einhörner zu sehen sind, gibt es zum Glück sogenannte Fallmanager auf Station. Doch auch ihre Infos waren knapp: Paul sei ein kompletter Pflegefall, er könne bei nichts helfen und er müsste oft abgesaugt werden. 

Und schon war meine Schicht zu Ende. Also übergab ich die wenigen Dinge, die ich wusste, an die Kollegen der nächsten Schicht und machte mich heim. Am nächsten Morgen wurde Paul von einer sehr fleissigen Auszubildenden versorgt und er ging in den OP. Ich traf ihn also auch am zweiten Tag nicht mehr an.

Wo ein Wille ist… 

Als Paul und ich am nächsten Morgen zusammentrafen – es war Zeit für die Morgentoilette – versuchte ich, mit ihm zu reden und ihn irgendwie zu mobilisieren. Pflege ist ein Fließbandgeschäft, gerade am Morgen, wenn am liebsten alle gleichzeitig ins Bad gehen oder gewaschen werden wollen. 

Da ich aber ein stoischer Klugscheisser bin und die eben kurz erwähnte tolle Azubine dabei hatte, wollten wir es zu zweit wagen, Paul in einen Toilettenstuhl (wie ein Rollstuhl, nur ohne Schieberäder und dafür etwas handlicher) zu transferieren und ins Bad zu schieben. Denn ich dachte auch an Pauls Atmung, er war schließlich frisch operiert: die Atemmuskulatur, Sekretabtragung und die Funktion der Lunge werden auf HNO-Stationen gerne mal übersehen. Das Waschen im Bett geht zwar schneller, ist aber nicht so gründlich und ausserdem ist für die Atemmuskulatur eine aufrechte Haltung besser. Eigentlich macht Mobilität alles (!) besser, es erschlägt mehrere Pflegeprophylaxen auf einmal.

Als Paul nun endlich an der Bettkante saß – es war schwer, denn im Liegen war er unkoordiniert und schwerfällig – passierte etwas Gruseliges: sein Gesäß glitt die Matratze entlang nach vorne. Mein Hirn hatte gerade noch genug Zeit „Scheisse, er kommt uns aus“ zu denken, bis ich merkte, dass er selbst nach vorne wollte.

Pauls Füße berührten den Boden und er machte sich in Richtung Bad davon. Schwupps, noch schnell den Katheterbeutel vom Bett abgemacht, standen Azubine und ich da und trauten unseren Augen nicht. Da war er. Paul, unser frisch operierter „kompletter Pflegefall“ saß erwartungsvoll im Badstuhl und suchte mit seinen Blicken nach Unterstützung bei der Morgentoilette.

Als er dann frisch gewaschen, angezogen, rasiert und top gepflegt im Aufenthaltsbereich der Station saß, besprach ich mich mit dem Stationsarzt, der Paul ausserdem operiert hatte. Ich hatte Fragen und er keine Antworten.

Warum er die Magensonde habe? Pffft… Wisse er auch nicht. Und er habe den Hals ja gesehen, da sei nicht Böses, die Kanüle geblockt und eine Aspiration unwahrscheinlich.  Ich solle es ruhig mit Oralisierung probieren, er vertraue mir, dass ich es nicht übertreibe. 

Fünf Becher Wackelpudding ohne Husten und Würgen später, begann ich allmählich etwas ärgerlich zu werden. Ich hätte mir so gerne ein Einhorn gewünscht. Oder zumindest einen Überleitungsbogen, in dem etwas mehr stand als „macht nix alleine, kompletter Pflegefall“. Ich ließ meine Wut an den Flüssignahrungen für die Magensonde aus, die ich grob zurück in den Schrank stellte, als hätten sie Schuld an dem schlechten Informationsfluss über Pauls Allgemeinzustand.

Dann fragte ich den besten Pflegehelfer auf Station, was heute das „weiche Mittagessen“ wäre. „Weiche Kost“ ist die Stufe zwischen „Brei“ und „Vollkost“. Es war eine Scheibe Schweinebraten mit zwei Knödeln und Soße. Ich nickte.

Als Paul seinen Schweinebraten vertilgte hatte, als hätte er lange nichts mehr gegessen (er hatte höchstwahrscheinlich tatsächlich lange nichts mehr gegessen), kam zufällig der Stationsarzt vorbei, betrachtete die Szenerie und kommentierte tonlos mit: „Läuft bei ihm“.

Ich bat den Doktor, er möge bitte bitte darüber etwas in den Arztbrief schreiben, denn Pflegeüberleitungsbögen würde eh niemand lesen. 

So ergänzte er unten folgende Zeile: “Der Patient wurde problemlos mobilisiert und auf weiche Kost oralisiert. Wir bitten um Physiotherapie und Evaluation der Ernährung per Sonde“. 

Paul blieb noch zwei Tage und rannte meist mit der Physio die Gänge entlang. Die Logopäden bestätigten, dass Paul ohne Aspiration ganz normal essen konnte. Dann folgte die Verlegung zurück in die Rehaklinik. Wir waren sehr zufrieden mit uns. Von unserer Physiotherapeutin bekam ich gar einen Kuss auf die Stirn und sie flüsterte mir ins Ohr: „Das hast du gut gemacht.“

… ist der Weg manchmal doch zu kurz

Als Paul allerdings zwei Monate später wieder kam, rutsche gerade uns beiden – der geschätzten Bewegerin und mir – das Herz nicht nur in die Hosentaschen. 

Aufnahmediagnose: Stomainsuffizienz. Blöd genug. Aber wie sah Paul denn aus? Abgemagert, dünne Beine, die Magensonde und der Blasenkatheter inzwischen durch PEG (Magensonde durch die Bauchdecke) und SPK (suprapubischen Blasenkatheter) ersetzt. 

Sogleich versuchten wir ihn aufzurichten, um zu sehen, ob er von der Trage ins Bett kommen würde. Und wie wir es gewohnt waren, zeigte Paul sich motiviert, aber die Beine trugen ihn nicht und wir setzten ihn schnell hin, bevor etwas Schlimmeres passierte.

Böse Gedanken fuhren durch meinen Kopf: „Kompletter Pflegefall…. ist ja eh ein Behinderter…. zu viel Arbeit…. womöglich weder Brief noch Überleitung gelesen…. faule, dumme Kollegen…..“

Heute sehe ich die Sache etwas anders. Paul heisst natürlich nicht Paul. Ich weiß seinen richtigen Namen und ich weiß, aus welcher Rehaklinik er kam. Ich kann den Namen der Klinik, ja sogar des Ortes nicht hören, ohne an diesen Fall zu denken und kurz innerlich zu knurren.

Der Fehler liegt oft im System 

ABER: Wenn ich ganz rational darüber nachdenke weiß ich, es lag nicht daran, dass ich klüger, besser oder fleißiger bin. Nein. Es war einfach Glück! Ich brauchte zwei volle Tage, umgeben vom üblichen Stress und der Versorgung genug anderer Patienten, bis ich Paul ordentlich selbst (!) versorgte und dabei verschiedene Dinge ausprobierte. Vielleicht war ich an dem Morgen besonders ausgeschlafen, vielleicht war mein Bereich leer, vielleicht hatte ich besonders gute Laune, ich wusste es nicht mehr. Ich bin ein großer, starker, dicker Mann. Es ist keine Arroganz von mir, wenn ich sage: Ich fühle mich sicherer als andere, auch schwere Patienten zu transferieren und zu mobilisieren. Es ist keine Herabwürdigung, wenn sich kleinere, schwächere und dünnere Kollegen*innen nicht das Gleiche trauen. Es war einfach nur Glück. Es hätte schief gehen können. Das Schlimme ist: Wir wissen nicht, wieviele Pauls da draussen noch herumlaufen. Oder gerne laufen würden. Wie viele Beine noch genug Kraft hätten, wie viele Hände gerne noch beherzt die Gabel in einen Knödel stechen möchten. 

Wir können sagen: „Wir sind zu wenige. Wie sollen wir das schaffen? Wir haben zu viele Patienten. Wie sollen wir allen gerecht werden?“

Ist das eine legitime Antwort? Eine Ausrede? Ich weiß es nicht. Es kommt wie so häufig auf die Situation an. Und in dieser Situation sah man ohne weitere Informationen nur einen älteren Mann mit einer geistigen Behinderung, der im Liegen keine koordinierte Bewegung ausführen konnte.

Als Paul erneut entlassen wurde, war er ein kompletter Pflegefall. 

Es kommt selten vor, aber unsere Fallmanagerin führte ein langes Telefongespräch darüber, welche Form der Unterbringung am Besten wäre und schilderte in einfachen Fakten den Verlauf wie wir ihn erlebt haben. Unsere Seite der Geschichte und was unserer Meinung nach eine ordentliche Nachbehandlung wäre. Das tut man normalerweise nicht, denn man kommt zu schnell in gefährliches Terrain, aber es scheint ein gutes Gespräch gewesen zu sein.

Was ist schlimmer, als zu viel zu arbeiten? Wenn man merkt, dass die Arbeit, die man gemacht hat, komplett sinnlos war.

Kann ich auf so einer finsteren Note enden? 

Es gibt noch ein Detail, eine Fußnote. Nach Pauls erstem Aufenthalt steckte mir der Nachbar (!) zehn Euro Trinkgeld zu. Warum? Er war diesmal für eine Kontrolluntersuchungen da, doch er erinnerte sich an seine erste OP und wie schlecht es ihm ging. Er erinnerte sich daran, wie wir, das Team, ihm geholfen haben und wie er innerhalb weniger Wochen von bettlägrig und lebensmüde wieder zu einem selbstständigen Menschen wurde, der bereit war, seine Erkrankung bei den Hörnern zu packen. Genau der richtige Moment, lieber Nachbar.

Genau der richtige Moment.

Beitragsbild: (cc-by2.0) Boris Thaser / FlickR

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